Interview
Der britische Investor und Kreml-Kritiker Bill Browder führt seit Jahren einen Feldzug gegen Wladimir Putin und sein Umfeld. Er fürchtet, dass der Präsident zum Äussersten bereit ist, um seine Macht zu erhalten.
Lorenz Honegger, Christian Steiner
Auf der Rückbank des spanischen Polizeiautos riecht es nach Schweiss und Urin. Soeben haben zwei Nationalpolizisten den britischen Investor Bill Browder frühmorgens in einem Madrider Fünfsternehotel festgenommen. Als Begründung für die Festnahme sagen sie bloss: «Interpol. Russland.» Browder weiss an diesem Vormittag im Frühling 2018 sofort, warum er in einem Polizeiauto sitzt: Als Kreml-Kritiker und Initiator der Magnitsky Act steht er seit Jahren auf der Abschussliste der Regierung von Präsident Wladimir Putin. Moskau hat ihn schon vor Jahren zu einer «Bedrohung für die nationale Sicherheit» erklärt. Als der spanischen Polizei klarwird, dass der Haftbefehl aus Moskau ungültig ist, lässt sie ihn laufen. Die Szene beschreibt Browder in seinem Buch «Freezing Order».
Herr Browder, bevor Sie zu einem der bekanntesten westlichen Kreml-Kritiker wurden, leiteten Sie einen der grössten ausländischen Fonds in Russland. Warum hat Wladimir Putin diesen finanziell ruinösen Angriff auf die Ukraine gestartet?
Es gibt eine sehr interessante Grafik. Sie zeigt den Verlauf von Putins Zustimmungswerten in der russischen Bevölkerung. Jedes Mal, wenn seine Popularitätszahlen zu sinken begannen, hat er einen neuen Krieg angezettelt. So geschehen 2008 in Georgien. So geschehen 2014, als er die ukrainische Halbinsel Krim annektierte. Die Kriege lassen seine Zustimmungswerte zuverlässig steigen – auch jetzt. Der Angriff auf die Ukraine hat meines Erachtens vor allem mit der Angst Wladimir Putins zu tun, seine Macht zu verlieren.
Warum fürchtet sich Putin vor dem Machtverlust?
Putin weiss, dass sich die Menschen in Russland eines Tages gegen ihn auflehnen werden, wenn sie realisieren, dass er und seine Kumpane alles Geld gestohlen haben, das für das Gesundheitswesen, die Bildung und die öffentlichen Dienste bestimmt war. Für mich ist die Korruption das entscheidende Merkmal dieses Krieges. Putin hat den Krieg begonnen, weil er den Zorn des Volkes über die Korruption fürchtete. Nun ist sein Versuch, die ganze Ukraine zu übernehmen, an den riesigen Geldsummen gescheitert, welche die Verantwortlichen der Armee geplündert haben.
Das ist aus Sicht der Ukraine und des Westens positiv.
Das Traurige an der ganzen Situation ist, dass Putin eine solche Demütigung nicht akzeptieren kann. Schwäche zu zeigen, ist für ihn wie ein Todesurteil. Das macht ihn so gefährlich. Ich fürchte, dass er noch viel grössere Greueltaten begehen wird, um seinen Ruf als brutaler und furchteinflössender Staatschef wiederherzustellen. Ich gehe davon aus, dass er auch vor Massenvernichtungswaffen nicht zurückschrecken wird.
Als Bill Browder Anfang dreissig den Hedge-Fund Hermitage Capital in Russland aufbaut, macht er sich einen Namen als aktivistischer Investor. Er habe damals nicht akzeptieren wollen, dass eine kleine Gruppe von Leuten «praktisch alles von allen stehlen konnte und damit davonkam», erinnert sich Browder. Er und seine Mitarbeiter recherchierten, wer hinter den Geldabflüssen steckte. «Diese Informationen nutzten wir dann, um Klagen einzureichen, Stimmrechtskämpfe zu führen und Behörden zu informieren.»
Als besonders effektiv stellte sich das Anprangern korrupter Machenschaften in der internationalen Presse heraus. «Ich musste den Diebstahl nicht komplett stoppen. Ich musste nur genügend Druck für eine marginale Verbesserung aufbauen.» Die Aktienkurse der Unternehmen seien so unterbewertet gewesen, dass jede Veränderung zum Positiven die Bewertungen dramatisch in die Höhe getrieben habe. Auf dem Höhepunkt waren die Investments des Fonds in russischen Aktien 4,5 Milliarden Dollar wert. Doch im November 2005, nach gut zehn Jahren, hat der Kreml genug von Browders Aktivismus, er wird zur Persona non grata erklärt und ausgewiesen.
Sie erlebten Russland vor und nach der Machtübernahme Putins im Jahr 2000. Was hat sich damals geändert?
Als ich das erste Mal nach Russland kam, herrschte totale Gesetzlosigkeit. Es war wie im Wilden Westen, die Kriminalität war omnipräsent. Die kriminellen Gruppierungen waren schlecht organisiert, es herrschte Chaos. Das änderte sich, als Wladimir Putin an die Macht kam. Russland entwickelte sich zu einem durchorganisierten kriminellen Staat mit dem Präsidenten und seinem Regierungsapparat als Dreh- und Angelpunkt. Wer im Kreml einen Ministerposten übernahm, tat dies nicht, um dem Land Russland zu dienen, sondern um reich zu werden. Auch heute noch gilt: Wenn man in Russland reich werden will, gründet man nicht ein Technologieunternehmen oder einen Hedge-Fund. Man wird Mitglied im Kabinett.
Der Westen hat die Profiteure Putins mit umfangreichen Sanktionen belegt. Wird das reichen, um diesen Krieg zu beenden?
Meiner Meinung nach sind Sanktionen wie Medikamente gegen eine Krankheit. Je nachdem, wann sie verabreicht werden, entscheidet sich, wie wirksam sie die Krankheit bekämpfen.
Im Fall des Ukraine-Kriegs kam die Medizin also zu spät?
Wenn die westlichen Länder vor Beginn des Krieges demonstriert hätten, dass sie in der Lage sind, wirtschaftliche Interessen zurückzustellen und griffige und gezielte Sanktionen zu ergreifen, hätte Putin vielleicht anders kalkuliert. Vielleicht hätte er den Krieg nicht begonnen, oder er hätte einen viel stärker begrenzten Krieg gestartet. Oder er hätte nur Volksabstimmungen in den Separatistengebieten durchgeführt. Aber jetzt, da er den Krieg begonnen hat, kann er nicht mehr zurück. Nun können wir sein Kalkül nicht ändern. Wir müssen ihn physisch stoppen. Nur wenn wir ihn vollständig wirtschaftlich isolieren, so dass er kein Geld mehr hat, um diesen Krieg zu führen, werden die Sanktionen den Krieg beenden.
Wie weit sind wir in dieser Hinsicht?
Wir sind gut unterwegs. Wir haben Zentralbankreserven in der Höhe von Hunderten Milliarden Dollar eingefroren. Wir haben die meisten der führenden Oligarchen mit Sanktionen belegt. Wir haben die meisten Banken von Swift abgeschnitten. Aber es gibt noch mehr zu tun. Wir müssen alle Banken von Swift ausschliessen. Anstatt 20 Oligarchen sollten wir 100 mit Sanktionen belegen. Und der sprichwörtliche Elefant im Raum ist das russische Erdöl. Während wir Sanktionen gegen Russland ergreifen, schickt der Westen, vor allem Westeuropa, Wladimir Putin jeden Tag eine Milliarde Dollar durch den Kauf von Erdöl und Erdgas. Wenn wir diesen Krieg wirklich beenden wollen, müssen wir damit aufhören, russisches Öl und russisches Gas zu kaufen. Das wird wirtschaftliche Einbussen zur Folge haben. Aber wenn wir ihn wirtschaftlich vollständig isolieren wollen, ist dieser Schritt unumgänglich.
Hätte der Westen die Gefahr, die von Wladimir Putin ausgeht, nicht schon viel früher erkennen müssen?
Wir haben uns diesen Schlamassel selbst eingebrockt. Wir haben Putin zwanzig Jahre lang die Erlaubnis gegeben, Greueltaten zu begehen. Der Einmarsch in Georgien, die Einnahme der Krim, der Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 (MH17), die Vergiftung von Alexei Nawalny, der Giftanschlag in Salisbury – alles blieb ohne nennenswerte Sanktionen. So kam Putin nach einer Weile zu der Überzeugung, dass wir alle so engstirnig und gierig seien, dass er mit einer Invasion der Ukraine durchkommen könnte. Er hat sich verrechnet, aber wir haben auch nichts dagegen getan. Alles, was wir jetzt tun können, ist, seine Fähigkeit, diesen Krieg zu führen, vollständig zu beeinträchtigen.
Sie würden also sagen, dass der Westen in der Vergangenheit gegenüber Putin Appeasement betrieben hat?
Der Westen hat Putin sogar ermutigt. Er hat in Salisbury einen Chemiewaffenangriff mit Nowitschok, einem verbotenen chemischen Nervenkampfstoff, verübt, und sechs Monate später fuhren Massen von Briten zur Fussball-Weltmeisterschaft nach Russland. Die niederländische Regierung hat 189 Menschen an Bord von MH17 verloren. Das entspricht pro Kopf der Zahl der Menschen, die in den Vereinigten Staaten am 11.September gestorben sind. Doch Ministerpräsident Mark Rutte war dermassen besorgt um die niederländischen Geschäftsinteressen in Russland, dass er die strafrechtlichen Ermittlungen «ihren natürlichen Lauf» nehmen lassen wollte. Das ist nur eines von hundert Beispielen, wie wir Putin ungestraft davonkommen liessen.
Ein Schlüsselmoment in Browders Leben ereignet sich im Jahr 2007, als Beamte des russischen Innenministeriums die Moskauer Büros seines Fonds durchsuchen. Browder stellt im Nachhinein fest, dass die Verantwortlichen der Razzia die beschlagnahmten Dokumente wohl missbrauchten, um vom russischen Staat 230 Millionen Dollar zu erhalten. Diesen Steuerbetrug will Browder aufklären. Im Zuge der Recherchen landet Sergei Magnitski, ein Wirtschaftsprüfer, der für Browder arbeitet, im November 2008 im Gefängnis und stirbt ein Jahr später in Gewahrsam. Die Nachricht von Magnitskis Tod bezeichnet Browder als «herzzerreissendsten, traumatischsten und verheerendsten Moment» in seinem Leben.
Seither führt er einen Kampf gegen sämtliche russischen Behördenvertreter, die sich in seinen Augen am Tod Magnitskis mitschuldig gemacht und von den Geldern aus dem Steuerbetrug profitiert haben. Er macht, was er am besten kann, und spannt die internationalen Medien ein, um Druck auszuüben. Mehrere Länder, darunter die USA, haben aufgrund von Browders Kampagne als «Magnitsky Acts» bekannte Gesetze eingeführt. Diese machen es zum Unmut Moskaus möglich, die Vermögen von russischen Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen einzufrieren und ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Die russische Regierung hat in den vergangenen Jahren erstaunliche Anstrengungen unternommen, um den Erlass von Magnitski-Gesetzen zu verhindern oder rückgängig zu machen. Wie erklären Sie sich die Vehemenz?
Ich vermute, dass Putin realisiert hat, dass die Magnitsky Act früher oder später auch ihn selber betreffen würde, also dass auch sein eigenes Vermögen auf dem Spiel steht. Wladimir Putin ist ein sehr gieriger Mann, er liebt Geld, und ich glaube, er fühlte sich persönlich angegriffen. Als die Vereinigten Staaten 2012 die Magnitsky Act erliessen, übte er Vergeltung, indem er die Adoption russischer Waisenkinder durch amerikanische Familien untersagte, und erklärte die Aufhebung des Gesetzes zu seiner obersten aussenpolitischen Priorität. Er hat es auch auf mich persönlich abgesehen. Seit 2012 hat es acht von Russland ausgelöste Interpol-Haftbefehle gegeben. Und er ging sogar so weit, Donald Trump auf dem Gipfel in Helsinki 2018 zu bitten, mich auszuliefern.
Während Sie schon lange vor Putin warnen, haben viele Unternehmen bis vor Ausbruch des Krieges nicht an das Worst-Case-Szenario geglaubt. Haben wir alle den Kopf in den Sand gesteckt?
Wie gesagt: Alle wollten die Greueltaten Wladimir Putins so lange wie möglich ignorieren. Wenn ich an das World Economic Forum in Davos reiste oder an Investorenkonferenzen in New York, habe ich immer gesagt: Die Führung dieses Landes ist kriminell. Russland ist kein Ort, wo man investieren sollte. Wer in Russland investiert, riskiert nicht nur sein Geld, sondern auch sein eigenes Leben und das seiner Mitarbeiter. Leider glaubte man lieber, dass mit mir etwas nicht stimmt als mit Putins Russland.
Was ist Ihre Prognose für die russische Wirtschaft?
Es lohnt sich ein Blick auf Venezuela. Das ist ein Land, das sich ebenfalls dem Westen widersetzt und infolgedessen einen totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlitten hat. Das wird auch in Russland geschehen. Eines der Schlüsselelemente für den Niedergang von Russlands Wirtschaft wird die Ölindustrie sein. Damit die Ölindustrie in Russland funktioniert, ist sie auf westliche Ölserviceunternehmen wie Halliburton und Schlumberger angewiesen. Wenn diese Firmen ihre Dienste aufgrund der Sanktionen einstellen, führt dies zu einem erheblichen Rückgang der Ölproduktion. Damit wird die gesamte Wirtschaftsgrundlage Russlands schwinden, weil es keine anderen Industrien hat. Das wird der Sargnagel für die russische Wirtschaft sein.
Trotz allem kann sich das Regime in Venezuela bis heute halten.
Ich glaube nicht, dass wir einen raschen Regimewechsel erleben werden. Auch Nordkorea befindet sich in einem Zustand der totalen wirtschaftlichen Lähmung. Aber das Regime ist seit vielen Jahrzehnten an der Macht. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass wir durch die Sanktionen einen Regimewechsel herbeiführen können. Wir können lediglich dafür sorgen, dass der Kreml weniger Möglichkeiten hat, Greueltaten zu begehen.
Die Sanktionen treffen auch die breite russische Bevölkerung. Sollte man das nicht vermeiden?
Das russische Volk befindet sich genauso in Geiselhaft von Wladimir Putin. In einer perfekten Welt hätten wir vor dem Krieg gezielte Sanktionen gegen Putin und seine Verbündeten erlassen, dann müssten wir jetzt nicht das ganze Land mit Sanktionen belegen. Leider befinden wir uns jetzt in einer Situation, in der wir uns den Luxus nicht mehr leisten können, das russische Volk von diesem Wirtschaftskrieg auszuschliessen.
Was wird aus Putins Verbündeten im Militär und im Geheimdienst, den Silowiki?
Es wird in Russland immer Leute geben, die Kaviar und Champagner in ihren Kühlschränken haben, egal, was geschieht.
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